Prolog

Vor sechs Jahren.

«Hier geht es nicht nur um dich oder mich. Denk doch mal an das Wohl aller Hexen!» Es war kaum mehr als ein Zischen zu hören. «Was denkst du, was ich hier tue?», kam die verärgerte Antwort. Unruhig blickten sie sich um. Hiervon durfte niemand etwas erfahren. Zwar hätte kein normaler Mensch die zwei Gestalten im Wald ausmachen können, allein der Nebel wäre viel zu dicht dazu. Dennoch mussten sie vorsichtig sein. «Wenn hier jemand mal gut nachdenken sollte, dann bist das wohl du. Wir wurden dazu geboren, die mächtigsten Hexen der Welt zu sein. Und das willst du einfach so hinschmeissen?» Unglaube mischte sich in die Wut. «Nur weil du so egoistisch bist und diese Macht für dich alleine willst, sollten nicht alle anderen Hexen darunter leiden müssen. Seit Jahrhunderten ist unser Volk geschwächt, und wir beide sind die einzigen, die die Möglichkeit haben, das zu ändern. Seit dem Krieg damals -» «Genau um diesen Krieg geht es doch. Wieso haben sich alle Hexen zerstritten? Wieso mussten sie sich aufsplitten? Eben wegen diesem Krieg! Und das willst du wirklich riskieren? Diesen schrecklichen Krieg von damals wiederholen? Glaub mir, das ist es nicht wert.» Das war genug. Genug, um die Wut mächtiger werden zu lassen. «Ich denke eher, dass du es dir nicht wert bist, deine sauberen kleinen Finger zu beschmutzen. Dich interessiert das Wohl der Hexen so wenig, wie …» «Wie was?» Ein abfälliges Schnauben kam von der Person, als sie ihr erneut das Wort abschnitt. Aus der Tasche erklang ein scharfes Klingen, als das Messer rausgezogen wurde. «Sprich nur weiter, ich bin ganz Ohr.» Es war ein leeres Versprechen. Bevor die Hexe zu Wort kommen konnte, steckte das Messer bereits in ihrer Brust. Der letzte Funken Leben war der entsetzte Blick, ehe die Leiche zu Boden fiel. «Leider kann ich dir nicht rechtgeben, die egoistische Hexe hat sich ihre sauberen kleinen Finger soeben doch schmutzig gemacht.» Mit einem selbstsicheren Lächeln wischte sie sich das Blut an der Hose ab. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, verschwand die Gestalt im Wald. 


Kapitel 1

Ein kleines rotes Auto zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich durch meine Polaroid Kamera, ehe ich abdrückte. Ein Surren ertönte, und keine Minute später hielt ich das weisse Bild in den Händen. Schüttelnd wartete ich darauf, bis man nach und nach etwas erkennen konnte. Die ruhige Strasse, eine Frau mit einem Hund, ein Fahrradfahrer – und in der Mitte das rote Auto. Sogar ein Vogel hatte sich ins Bild geschlichen. Ich musterte das Foto einen Moment, dann erhob ich mich von meinem Fensterbrett und ging durch mein Zimmer zum Regal. Seufzend stellte ich es zu den anderen. Das war bestimmt schon das zwanzigste Polaroid, das ich in den Ferien gemacht hatte. Wenn man bedachte, dass die Schulglocke meine Sommerferien erst vor zwei Stunden angekündigt hatten, waren das erstaunlich viele Bilder. Doch ich wusste sonst nichts mit mir anzufangen. Wenn Tabea hier wäre, hätten wir uns begeistert darüber unterhalten, ob wir als erstes ins Kino, ins Freibad oder ein Eis essen gehen wollten. Wir hätten so viele Sachen zusammen erleben wollen, dass wir Angst gehabt hätten, uns würde die Zeit davonlaufen. Wir hätten … Ich unterbrach meine Gedanken. Tabea war nicht hier, und das würde sich, so wie es aussah, auch nicht ändern. Ich dachte darüber nach, dass ich eigentlich wütend sein sollte, sie fragen sollte, was in aller Welt in sie gefahren war. Doch ich war es nicht. Vielmehr fühlte ich mich verletzt und unendlich traurig. Immer, wenn sich Tabea in meinen Kopf stahl, verzog sich schmerzhaft mein Herz. Es war, als wäre der wichtigste Teil meines Lebens plötzlich aus mir herausgerissen worden. Mit allen Mitteln versuchte ich, mich davon abzulenken. Ich wollte einfach auf andere Gedanken kommen, die Ferien geniessen und abschalten können. Natürlich gelang es mir nicht. Mit wenigen Schritten durchquerte ich mein Zimmer und schnappte mir den kleinen Kaktus von meinem Schreibtisch. Ich stellte ihn neben die vielen Polaroids, betrachtete es einen Augenblick und stellte ihn schliesslich wieder zurück auf den Tisch. Es war hoffnungslos. Bereits dreimal hatte ich versucht, mein Zimmer umzustellen, machte es aber immer wieder rückgängig. So gern ich mich auch ablenken wollte, mein Zimmer wollte ich eigentlich so belassen, wie es war. Ich mochte Veränderungen nicht gerne. Umso schwerer war es für mich, Tabea so plötzlich aus meinem Leben zu haben. Tabea. Ich stöhnte genervt. Konnte ich nicht ein einziges Mal nicht an sie denken? Aufgebracht schnappte ich mir meine Polaroid Kamera, musste dann jedoch feststellen, dass ich alle Bilder schon aufgebraucht hatte. Na toll. Eventuell hatte ich es wirklich übertrieben mit den Bildern. Da ich sonst keine Ahnung hatte, wie ich mich beschäftigen sollte, beschloss ich, nach unten zu gehen. Schlürfend stieg ich die Treppe hinab, ohne wirklich zu wissen, warum ich Zeit schindete. Mein Vater war noch nicht von der Arbeit zurückgekommen, daher war es gespenstisch still. Das einzige Geräusch, das ich wahrnehmen konnte, war das Klicken der Tasten, als ich mich dem Büro meiner Mutter näherte. Ich öffnete die angelehnte Tür und trat ein. Meine Mutter unterbrach ihr Tippen und schaute von ihrem Computer auf. Dem mitfühlenden Blick nach zu urteilen, wusste sie genau, aus welchem Grund ich hier war. Bevor sie etwas sagen konnte, fragte ich: «Kann ich dir irgendwie helfen?» Ich setzte einen hoffnungsvollen Blick auf. Auch ohne es auszusprechen, schien Mama zu merken, dass ich gerade nicht darüber reden wollte. Ich war froh darüber, dass sie mich gut genug kannte und deshalb einfach auf meine Frage einging, statt nachzufragen, wie es mir ging. «Ja klar, reich mir doch bitte mal die Post vom Regal.» Dankbar über die Ablenkung wandte ich mich dem Regal auf meiner rechten Seite zu. Mein Blick wanderte über die Regalbretter. «Oben», kam es aus ihrer Richtung, als ich den kleinen Papierstapel schon entdeckte. Sie erklärte mir, wie ich es sortieren sollte und machte mir an einer Ecke von ihrem Schreibtisch Platz. Ich setzte mich auf den kleinen Hocker und begann mit der Arbeit. Während ich die Briefe sortierte, sprang mir plötzlich ein gelber Umschlag ins Auge. Ich beäugte ihn kritisch. «Kommt der zu den anderen?», fragte ich. Es dauerte einen Moment, ehe meine Mutter aufsah. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich schlecht, weil ich sie von ihrer Arbeit abhielt. «Zeig mal her.» Sie streckte die Hand aus und nahm den Umschlag entgegen. Stirnrunzelnd drehte sie ihn um, machte jedoch die gleiche Feststellung wie ich. Da war kein Absender, kein Logo, keine Firma. Nur das gelbe Papier stach einem ins Auge. «Würdest du ihn öffnen?» Ich bejahte und riss gespannt den Umschlag auf. Das erste, was mir entgegensprang, war das alte Anwesen auf der Broschüre. Sommerspass auf Blairston Hall, las ich die Überschrift. «Ein Sommercamp?» Ich blickte in das neugierige Gesicht meiner Mutter und reichte ihr die Broschüre. Ein Brief fiel heraus. Ungeduldig wartete ich darauf, bis sie ihn durchgelesen hatte. Ich wippte mit meinem Bein, während sie sich nun noch die Broschüre durchblätterte. «Und?», fragte ich. «Das ist ja grossartig!» Meine Mutter strahlte. «Keyla, in diesem Camp sind gerade ein paar Plätze freigeworden. Das kommt ja wie gerufen! Es würde vier Wochen dauern und nächste Woche schon losgehen. Es hat sogar –» Ich unterbrach ihren Redeschwall. «Warte mal, du meinst, ich soll in dieses Camp?» Sie reichte mir die Broschüre. «Schau es dir selbst an, es wäre perfekt.» Skeptisch blätterte ich durch die Seiten. «Naja.», machte ich und legte den Kopf schief. Ich war noch nie in einem Camp gewesen und hatte bisher auch nie darüber nachgedacht, da es mich nicht sonderlich interessierte. «Das ist deine Chance, Keyla. Dein Vater und ich müssen in den Ferien sowieso noch viel arbeiten und jetzt, da du nicht zu Tabea kannst…» Sie stockte. «Überleg doch mal. Es klingt echt toll.» Ich seufzte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Das wäre die perfekte Ablenkung. Ich versuchte, das ganze abzuwägen. Zugegebenermassen sahen die Bilder schon sehr verlockend aus. «Und», meine Mutter warf mir ein vielsagendes Lächeln zu, «sie bieten sogar einen Fotografie-Kurs an.» Ob es das war, was mich schlussendlich davon überzeugte, wusste ich nicht. Es liess mich auf jeden Fall aufhorchen. Als ich schliesslich sagte, dass es vielleicht mal einen Versuch wert wäre, freute sich Mama wahrscheinlich noch mehr darüber als ich. «Es wird dir bestimmt gefallen!» Strahlend stand sie auf und zog mich in eine Umarmung. Hundertprozentig davon überzeugt war ich zwar immer noch nicht, aber es konnte ja auch nicht schaden. Mein Blick wanderte über die vielen verschiedenen Angebote, die aufgelistet waren, und blieb beim Fotografie-Kurs hängen. «Falls ich überhaupt noch einen Platz bekomme», wand ich plötzlich ein, doch meine Mutter war sehr optimistisch, was das anging. «Das wird schon klappen, wir melden dich am besten jetzt gleich an.» Schon setzte sie sich zurück an ihren Computer und gab mir nicht mal die Chance, etwas dagegen einzuwenden. Sie rief die Website auf und klickte sich durch die Anmeldung. Ich stellte mich hinter ihren Stuhl und schaute ihr über die Schulter auf den Bildschirm. Sobald das Anmeldeformular mit meinen Daten aufgefüllt war, drehte sie sich zu mir um. Mit ihrem Blick schien sie zu fragen, ob es okay war. Als Antwort darauf griff ich nach der Maus und drückte auf Absenden, ohne nochmal darüber nachzudenken. Unten erschien die Nachricht, dass die Anmeldung erfolgreich abgeschickt wurde, was mir nun doch ein Lächeln entlockte. Mama erwiderte es. «Jetzt heisst es nur noch warten.» 

Noch am gleichen Abend erhielt ich eine Mail, dass ich am Camp teilnehmen durfte. Mittlerweile wollte ich unbedingt dabei sein und freute mich umso mehr, als die Nachricht auf meinem Handy erschien. Ich stürmte nach unten, wo meine Eltern gerade den Tisch deckten. «Ich bin dabei!», rief ich. Ich blickte in das erfreute Gesicht meiner Mutter und den zufriedenen Ausdruck meines Vaters. «Ehrlich?», fragte Mama glücklich. «Das ist toll!» Sie strahlte nach wie vor, anscheinend hatte sie sich ohnehin schon Sorgen gemacht, wie ich die Ferien verbringen würde. Auch mein Vater lächelte. Er schien ebenfalls erleichtert zu sein. «Das freut mich sehr für dich. Halte uns auf jeden Fall auf dem Laufenden, nicht dass du noch deine alten Eltern vergisst», sagte er zwinkernd. «Wie könnte ich nur.», antwortete ich lachend. Ich konnte den Montag kaum abwarten.  


Kapitel 2

Zögernd liess ich mich auf einen der Sitze im Car fallen und rutschte ans Fenster. Ich liess meinen Blick über den Parkplatz schweifen und winkte zum Abschied meinen Eltern zu, als ich sie entdeckte. Endlich war es soweit. Den heutigen Tag hatte ich das ganze Wochenende schon herbeigesehnt. Zwei Tage hatten sich noch nie so unendlich lang angefühlt. Am Samstag hatte Mama mir extra noch drei Packungen mit je zehn Bildern für meine Polaroid Kamera gekauft, damit ich besondere Momente im Camp festhalten konnte. Es war mir sehr schwer gefallen, sie nicht gleich aufzubrauchen. So gern ich auch mehr Bilder geschossen hätte, musste ich mich am Wochenende mit einem Filmemarathon zufriedengeben. Es hätte mir wahrscheinlich sogar Spass gemacht, hätte ich mich auf die Filme konzentrieren können. «Ist hier noch frei?» Ich sah zu dem blond gelockten Mädchen auf, das unsicher auf den Platz neben mir deutete. Sie wirkte etwas jünger als ich. «Ja», antwortete ich und nahm meine Jacke weg, damit sie sich setzten konnte. Dann schenkte ich ihr ein Lächeln. Nachdem sie sich gesetzt hatte, stellte ich mich ihr vor. «Hey, ich bin Keyla. Und du?» «Alina.» Sie lächelte schüchtern. «Freut mich.» Eine Weile schwiegen wir, ehe ich versuchte, ein Gespräch mit ihr anzufangen. «Freust du dich schon aufs Camp?», fragte ich sie. Alina nickte. «Ich habe noch einen der frei gewordenen Plätze bekommen.» «Wirklich? Ich auch», sagte ich überrascht. «Dann hatten wir wohl beide Glück.» «Ja», stimmte Alina mir leise zu. Sie wirkte noch sehr zurückhaltend. Ich hörte, wie der Motor startete und der Car sich in Bewegung setzte. Der Fahrer verkündete, dass wir eine Stunde unterwegs sein würden, bis wir Blairston Hall erreichten. «Zum Glück habe ich genug Garn eingepackt», hörte ich Alina neben mir murmeln. Ich lachte, als ich die vielen verschiedenen Garne in ihrem Rucksack sah. «Was hast du denn vor damit?» Statt einer Antwort zog Alina ein geknüpftes Armband aus ihrem Rucksack hervor und zeigte es mir. Gelbe, orange und rosafarbene Fäden waren so ineinander verschlungen, dass ein schönes Muster entstand. Ich staunte. «Das hast du selbst gemacht?» Sie nickte. «Wow, das sieht echt toll aus.» «Es ist nicht so schwer wie es aussieht», winkte sie ab. «Trotzdem sieht es toll aus.», beharrte ich. «Danke.» Sie lächelte, dann kramte sie ihr Handy hervor und zeigte mir ein Bild. «Ich würde gerne sowas probieren.» Interessiert beugte ich mich über das Display. Ein breiteres Armband mit aufwendig aussehendem Muster war zu sehen. «Sieht ganz schön kompliziert aus.» Alina zuckte mit den Schultern. «Ich habe eine Stunde Zeit dafür.» «Stimmt.» Wir unterhielten uns noch ein bisschen weiter, dann holte ich die Kopfhörer aus meinem Rucksack und hörte Musik, während ich aus dem Fenster schaute. Ab und zu blickte ich zu Alina, die sich konzentriert ein Video anschaute, dann ein paar Knoten machte und sie schliesslich wieder öffnete. Anscheinend war es wirklich kompliziert. Die Fahrt verging schneller, als ich dachte. Seit zehn Minuten fuhren wir nur noch durch einen dichten Wald und ich fragte mich, wo Blairston Hall wohl lag. Wenn ich meinem Zeitgefühl trauen konnte, müssten wir bald ankommen, doch weit und breit waren nur Bäume zu sehen. Ich stellte meine Musik aus und wandte mich Alina zu. «Na, bist du weitergekommen?» Sie schaute auf. «Ich glaube, ich habe es vielleicht etwas unterschätzt.» Sie lachte und drehte das halbfertige Armband in ihrer Hand. »Also ich finde, das sieht schon ganz gut aus”, meinte ich. Alina freute sich sichtlich über das Kompliment. Plötzlich ging ein Ruck durch den Car. Ich schaute nach draussen und stellte fest, dass wir gerade auf einem Vorplatz hielten. Blairston Hall war in echt noch schöner als auf den Bildern. Gebannt sog ich den Blick von dem alten Anwesen in mich auf. Es war sehr alt und Efeuranken zierten die Fassade. Bevor ich ausstieg, zückte ich mein Handy und schrieb meinen Eltern eine kurze Nachricht, dass wir angekommen waren. Ich machte noch ein Foto von dem Anwesen und steckte es dann wieder ein. Alina und ich folgten den anderen Jugendlichen aus dem Car und nahmen unser Gepäck entgegen. Keine zehn Minuten später fuhr er dann schon wieder weg. Ich blickte mich um und entdeckte einige Erwachsene auf dem Vorplatz. Ich nahm an, dass das unsere Campleiter waren. Da sonst niemand auf sie zuging, wollte ich mich gerade in ihre Richtung bewegen, als sie dann schon zu uns kamen. Es waren sechs Leute. »Hallo zusammen”, begrüsste uns ein nett aussehender Mann mit Glatze. »Schön, dass ihr alle gut angekommen seid. Mein Name ist Lukes Benett und ich leite dieses Camp auf Blairston Hall. Ich freue mich schon auf die folgenden vier Wochen mit euch.” Er machte grosse Gesten, die seine Worte unterstrichen. »Im Camp geht es vor allem darum, dass ihr Spass habt. Wir möchten euch einen schönen und unvergesslichen Sommer bereiten und hoffen, dass ihr genau so viel Lust darauf habt, wie wir. Gleich werdet ihr noch von Herrn Haas rumgeführt. Ihr werdet sehen, dass am Eingang eine Liste hängt. Dort könnt ihr euch jeweils für ein Angebot eintragen. Natürlich seid ihr zu nichts gezwungen, wenn ihr möchtet könnt ihr euch auch durch alle Angebote durchprobieren.” Er erklärte uns noch ein paar organisatorische Details und die anderen Betreuer stellten sich vor. Dann überliess uns der Leiter einem älteren Mann, der sich als Herr Haas vorstellte. Ich stellte mich zur Gruppe, wandte mich aber dem Gebäude statt dem Betreuer zu. Ich konnte den Blick einfach nicht davon lassen. Deshalb konnte ich mich auch nicht zurückhalten, die Polaroid Kamera aus meinem Rucksack zu holen und schnell ein Foto zu schiessen. Dann drehte ich mich zu Herr Haas um und hörte ihm wie die anderen zu. Er führte uns über einen Kiesweg zum Eingang des Anwesens. Die Tür stand offen und gab schon vor dem Eintreten den Blick auf eine grosse Eingangshalle frei. Ich hätte nicht erwartet, dass es von innen noch schöner aussehen würde, als von aussen. Fasziniert drehte ich mich im Kreis und schaute nach oben. Die Wände waren sehr hoch und die Decke mit aufwendigen Muster geziert. Alina unterbrach mich mit einem sanften Stupsen am Arm. «Wollen wir schauen, wo unsere Zimmer sind?» Ich riss mich von dem schönen Anblick los. «Ja klar.» Die anderen vom Camp waren alle schon an der Tafel und studierten die aufgehängten Blätter. Gemeinsam gingen wir rüber und betrachteten die Liste mit der Zimmeraufteilung. Ich entdeckte meinen Namen ganz oben auf der Liste neben dem Namen Nora Roberts. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich gewesen wäre, war ich etwas enttäuscht darüber, nicht mit Alina in einem Zimmer zu sein. Es wäre schön gewesen, da sie die einzige war, mit der ich mich bisher unterhalten hatte. Ausserdem erschien sie mir sehr nett. «Oh schade, ich bin mit einem Mädchen namens Mika Takana in Zimmer 25. In welchem Zimmer bist du?» «Zimmer 11 mit Nora Roberts.» Die Enttäuschung, die ich vorher auf Alinas Gesicht entdeckt hatte, war schon wieder verflogen. Stattdessen fragte sie begeistert: «Gehen wir unsere Zimmer suchen?» Ich stimmte ihr sofort zu. Die Jugendlichen hatten sich schon verteilt, manche von ihnen waren bereits oben. Wir gingen die breite Treppe hoch, die ich auch nur bestaunen konnte. Blairston Hall hatte etwas Majestätisches an sich, das mich durchgehend in den Bann zog. Nur ganz langsam stieg ich die Treppe hinauf. Alina drehte sich schon mit einem fragenden Blick zu mir um. Ich beschleunigte meine Schritte, immerhin hatte ich noch vier Wochen Zeit, um diesen Anblick zu geniessen. Am Ende der Treppe gelangten wir ihn einen Gang, der in zwei Richtungen führte. «Schauen wir uns noch ein wenig um», schlug ich vor. Wir hatten noch ausreichend Zeit, um uns später in Ruhe einzurichten. Alina folgte mir durch die Gänge und wir fanden uns plötzlich in dem Gemeinschaftsraum wieder. Mit den Sofas, dem Ofen und den hohen Fenstern sah der Raum richtig gemütlich aus. Alina und ich beschlossen, uns nach dem Einrichten hier zu treffen und gingen auf unsere Zimmer. Mein Zimmer war das erste, wenn man von der Treppe aus in den Gang einbog. Von innen hörte ich dumpfe Geräusche und nahm an, dass meine Zimmergenossin bereits drin war. Ich öffnete die Tür und sah als erstes das Mädchen, das wie wild in einer grossen Reisetasche wühlte. Sie trug auffällig grosse Ohrringe, die gut zu ihrem braunen Bob und der braun gebrannten Haut passten. Vom Türrahmen aus beobachtete ich, wie sie eine Packung Kaugummis hervorholte und sich dann zufrieden zwei auf einmal in den Mund nahm. Da entdeckte sie mich. «Was starrst du so?», giftete sie. Endlich trat ich in den Raum ein und zog die Tür hinter mir zu. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich sie angestarrt hatte. «Oh tut mir leid, das war keine Absicht.» Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch. «Du bist dann wohl Nora Roberts?», fragte ich und bemühte mich um einen lockeren Ton. Ihre Antwort war sehr sarkastisch. «Wow, Sherlock Holmes steht vor mir.» Mit einem Schnauben wandte sie sich ab. «Ich schlafe hier.» Sie warf sich auf das Bett neben dem Fenster und tippte kaugummikauend auf ihrem Handy herum. Da sie sich nicht weiter für mich zu interessieren schien, sah ich mich ich mich in unserem Zimmer um. Es war grösser, als ich erwartet hatte. Neben den beiden Betten hatten wir einen grossen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Schreibtisch und zwei Stühle. Für das alte Gebäude war das Zimmer sogar ziemlich modern eingerichtet. Ich packte das wichtigste aus und schickte meinen Eltern ein Foto von dem Zimmer und eins, welches ich bei unserer Ankunft von Blairston Hall gemacht hatte. Dann nahm ich einen Bilderrahmen mit einem Bild von meiner Mutter, meinem Vater und mir hervor und stellte es auf den Nachttisch neben meinem Bett. Das Polaroid von Blairston Hall stellte ich nebendran. Sofort fühlte sich das Zimmer mehr nach mir an. Meine Tasche war leer und die Sachen im Schrank verstaut. Gerade wollte ich das Zimmer verlassen und zu Alina in den Gemeinschaftsraum gehen, als ich mich zu Nora umdrehte. «Ich treffe mich mit gleich einem Mädchen im Gemeinschaftsraum, möchtest du mitkommen?» Nora sah kurz von ihrem Handy auf und antwortete dann mit einem trockenen «Nein», als wäre die Vorstellung vollkommen absurd. Ihre Aufmerksamkeit hatte sie schon längst wieder auf ihr Handy gerichtet. Dann eben nicht, dachte ich und verliess den Raum. Im Gegensatz zu vorher war der Gemeinschaftsraum nicht mehr leer. Zwei Jungs unterhielten sich lachend neben einem der grossen Fenster und ein paar Mädchen sassen auf den Sofas. Alina konnte ich noch nirgends entdecken, daher ging ich zu der kleinen Gruppe Mädchen und setzte mich zu ihnen auf das Sofa. «Hey, ich bin Keyla», stellte ich mich vor und unterbrach somit die Stille zwischen ihnen. Anscheinend hatten sie sich noch nicht richtig unterhalten, denn sie wirkten etwas unsicher. «Mein Name ist Elisa», stellte sich dann das Mädchen mit langen schwarzen Haaren vor. Sie lächelte mir zu und wirkte selbstbewusster, als die anderen beiden. Diese entpuppten sich als Leonie und Ivana. Ich unterhielt mich ein wenig mit ihnen, obwohl mir hauptsächlich Elisa antwortete. Sie war gerade dabei, mir zu erzählen, in wie vielen tollen Camps sie schon war, als Alina den Raum betrat. Mittlerweile hatte sich der Gemeinschaftsraum noch mehr gefüllt. Ihr Blick gleitete zwischen den Jugendlichen hin und her. Mit einem auffordernden Winken machte ich sie auf mich aufmerksam. Sobald sie mich entdeckte, erhellte sich ihr Gesicht. Keine Sekunde später setzte sie sich neben mich. «Schau mal, Keyla, ich habe endlich das Armband fertiggeschafft.» Strahlend zeigte sie mir das geknüpfte Band, das sie im Car begonnen hatte. «Oh wow, es ist echt toll geworden», sprach ich meinen Gedanken aus und betrachtete ihr Werk. Neben mir nahm ich ein Kichern war. Ich sah zu Elisa, die so tat, als hätte sie sich verschluckt. Alina hatte es ebenfalls bemerkt und schaute unsicher zwischen den drei Mädchen hin und her. Ich warf Elisa einen bösen Blick zu und wollte gerade wieder mit Alina sprechen, als einer der beiden Jungs vom Fenster zu uns kam. «Wie ich sehe, sind wir hier bei Wer ist am uncoolsten gelandet», äusserte sich der Junge und rümpfte die Nase, als er Alinas Armband musterte. «Wieso habt ihr mir nicht gesagt, dass gerade ein neuer Rekord aufgestellt wurde?» Ich war entsetzt über den hochnäsigen Ausdruck in seinem Gesicht. «Was fällt dir ein, so mit ihr zu sprechen? Ist dein Leben so uncool, dass du deshalb ein anderes runtermachen musst? Das kannst du dir nämlich gerne sparen, ausser du willst derjenige sein, der hier einen neuen Rekord aufstellt.» Der Junge fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzten, als ihn sein Freund unterbrach. «Lass das, Jamie», zischte er und boxte ihm in den Oberarm. Doch für mich war die Sache noch nicht beendet. «Nur damit du Bescheid weisst, so ein Armband zu knüpfen ist viel schwieriger, als es aussieht und Alina hat wirklich ein Talent dafür. Das kann man von dir offensichtlich nicht behaupten.» Jamies Freund zog ihn weg, beim Vorbeigehen sah ich allerdings, wie mich Jamie wütend anfunkelte. Das war es allerdings wert gewesen. Die Mädchen standen auf und ich sah, wie Elisa den beiden Jungs hinterherging. Sie liessen mich und Alina alleine auf dem Sofa zurück. Als sie aus meinem Sichtfeld verschwanden, wandte ich mich Alina zu, die den Kopf noch immer eingezogen hatte. «Tut mir leid, wo sind wir stehengeblieben?» Sie blinzelte, dann sah sie mich mit grossen Augen an. «Ich ähm … danke.» Ihre Stimme war noch leiser als sonst. Mit einer wegwerfenden Handbewegung versuchte ich, den plötzlichen Stimmungswechsel beiseite zu schieben. «Ach, ist doch nicht der Rede wert. Seinem Ego tut es bestimmt gut, wenn ihn mal jemand zurechtweist.» «Danke», wiederholte sie nochmal und ich sah ihr an, wie viel es ihr bedeutete, dass ich mich für sie eingesetzt hatte. Ich beobachtete, wie sie den Kopf schüttelte und dann ein hoffnungsvolles Lächeln aufsetzte. «Möchtest du das Armband haben?» Ungläubig schaute ich sie an. «Du willst es mir schenken? Nachdem du so lange dafür gebraucht hast?» Sie nickte eifrig und schenkte mir ein glückliches Lächeln, so dass ich nicht Nein sagen konnte. «Das ist echt lieb von dir», sagte ich und erwiderte ihr Lächeln. Sie legte es mir um das Handgelenk und machte einen Knoten rein. «Das sieht toll aus an dir, es passt super zu deinen roten Haaren», fand sie und ich musste ihr Recht geben. Nicht nur das Geschenk war es, was mich zum Lächeln brachte, sondern auch die Tatsache, eine neue Freundin gefunden zu haben.